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Systemische Führung und die Amöben-Organisation - Nach innen stabil, nach außen anpassungsfähig

Die W. L. Gore & Associates GmbH ist ein 1958 von Bill Gore gegründetes Unternehmen, das neue Anwendungsbereiche für den Kunststoff Polytetrafluorethylen (PTFE) entwickelt und dadurch Weltmarktführer im Einsatz von PTFE geworden ist. So findet der Kunststoff mittlerweile u.a. Anwendung in atmungsaktiven Schuhen, Implantaten für die plastische Chirurgie, Dichtungen für Rohre, Ausgleichsmembranen für Brennstoffzellen und in wasserdichten Jacken. Der Erfolg von Gore basiert auf der hohen Produktivität und der starken Innovationskraft des Unternehmens. Bill Gore verfolgte von Beginn an einen in der Wirtschaft neuen Weg des Organisationsaufbaus, um dieses hohe Maß an Kreativität und Beweglichkeit bei den Mitarbeitern zu fördern: die „Amöben-Organisation“. 

Die Amöbe ist ein nach innen sehr stabiler und nach außen extrem anpassungsfähiger Organismus, der in der Lage ist, sich an fast jede Umwelt anzupassen. Mit seinen so genannten „Scheinfüßchen“ tastet sich der Einzeller an Nahrungspartikel heran und untersucht sie. Ist das Nahrungspartikel genießbar, wird es umschlossen und in das Zellinnere absorbiert. Ist das Nahrungspartikel ungenießbar, kann die Amöbe ihre Scheinfüßchen schnell wieder einziehen und lässt davon ab. Zudem teilt sich die Amöbe ab einer gewissen Größe, und es werden zwei neue Einzeller bzw. Amöben aus ihr. Eine extrem effektive und schnelle Art der Vermehrung.

Der Amöbe entsprechend, zeichnet sich die W. L. Gore & Associates GmbH unter anderem durch eine flache Hierarchie von lern- und entscheidungsfähigen Teams aus, was die hohe Flexibilität des Unternehmens gewährleistet. Die Organisationsstruktur ist darauf ausgerichtet, Marktchancen zu identifizieren und zu nutzen. Sie ist jedoch ebenso in der Lage, schnellstmöglich eine Idee zu verwerfen, falls sie sich als unwirtschaftlich herausstellt. Bei Gore gibt es keine Titel und der Platz bzw. die Funktion der Mitarbeiter im Unternehmen wird nach dem Partner-Modell bestimmt. Die Mitarbeiter heißen „Associates“ und die Vorgesetzten „Sponsoren“ oder „Leader“, die sich durch Ihre besonderen Fähigkeiten und Erfahrungen auszeichnen und deshalb vom Team gewählt werden. Die Mitarbeiter profitieren über einen Beteiligungsplan vom Wachstum ihres Unternehmens. Die Associates arbeiten an Projekten, die ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechen. So soll der maximale Nutzen für das Unternehmen mit der größtmöglichen Zufriedenheit jedes Mitarbeiters einhergehen. 

Um eine geringe Anonymität zwischen den Mitarbeitern zu gewährleisten, wie so häufig in große Unternehmen entsteht, wo keiner mehr den anderen kennt, teilt sich ein Werk des Unternehmens Gore - genau wie die Amöbe - ab einer gewissen Größe und es entstehen neue, unabhängige Gewinn- und Verlust-Einheiten. Ab einer gewissen kritischen Firmengröße und der damit verbundenen steigenden Anonymität funktioniert das System der direkten zwischenmenschlichen Kommunikation nicht mehr und das freiwillige Engagement fällt den Mitarbeitern schwerer. Die netzwerkartige Kommunikationsstruktur ermöglicht es den Organisatoren eines Projekts, sich unkompliziert Denkanstöße zu holen und sich die Mithilfe von anderen Mitarbeitern  zu sichern. Auf der Website des Unternehmens heißt es: „All dies findet in einer Umgebung statt, die Freiheit mit Zusammenarbeit und Autonomie mit Synergie kombiniert.“ 

Um den Fortbestand dieses Organisationsgefüges zu garantieren, müssen die Mitarbeiter vier von Bill Gore aufgestellte, für alle verbindliche Unternehmensprinzipien befolgen: Selbstverpflichtung, Fairness, Freiheit und die Beachtung der sogenannten „Waterline“. Der Mitarbeiter hat die Fähigkeit zur Übernahme von Verpflichtungen und deren Einhaltung. Fairness ist die Grundlage für Teamarbeit und herrscht sowohl untereinander als auch gegenüber jedem Externen, mit dem man in Kontakt kommt. Man hat die Freiheit, eigenen Ideen nachzugehen, und gewährt den Kollegen die Toleranz und die Ermutigung, sich Wissen, Fähigkeiten und Verantwortung aneignen. Das vierte Unternehmensprinzip stellt eine Analogie zu einem Schiff dar, an dem noch gebaut wird, obwohl es sich schon im Wasser befindet: Falls man unter der Wasserlinie (Waterline), also im existenziellen Bereich, ein Loch in den Rumpf bohrt, dringt Wasser ein und das Schiff droht zu sinken. Übertragen bedeutet dies, dass man  sich vor dem Ergreifen von Maßnahmen, die dem Wohl  des Unternehmens schaden könnten, mit anderen Associates berät, um die Verantwortung zu teilen. Oberhalb der Wasserlinie dagegen sind neue Ideen, Initiative und Eingenverantwortung ausdrücklich erwünscht.

Die Amöben-Organisation der W. L. Gore & Associates GmbH genießt international großes Ansehen: 2006 wurde die Firma von der Sunday Times als bester britischer Arbeitgeber gewählt und von Capitalund dem Great Place to Work® Institute Deutschlandzu Deutschlands bestem Arbeitsgeber. Zudem belegt das Unternehmen im Fortune Magazine stets einen der Plätze unter den 100 besten Arbeitgebern in Amerika. Die Organisationsform der W. L. Gore & Associates GmbH hat dabei auch andere Firmen überzeugt, wie zum Beispiel Kyocera, dessen Gründer  Kazuo Inamori das Amöben-Konzept übernahm.